Psyche fährt Achterbahn

Psychologischen Aspekte im Zusammenhang mit CED.
Trüffel
könnte auch hier einziehen
Beiträge: 484
Registriert: Sa 3. Jun 2017, 18:52

Re: Psyche fährt Achterbahn

Beitrag von Trüffel »

Hallo Mondkalb,
Mondkalb hat geschrieben:
Mi 22. Apr 2020, 14:41
daraus ergibt sich auch das Bild das die meisten Menschen nichts mit sich anzufangen wissen. Die Statements gehen in die Richtung oder eher doch die Klagelieder noch nicht mal ein Café hat offen
Deine Aussage kann ich auf einen Großteil meiner Bekannten 1:1 übertragen. Über deren Statements schüttel ich dann manchmal nur den Kopf und lass sie einfach reden. Es bringt mich aber auch zum Nachdenken, dass eben nicht jeder Mensch gleich empfindet und für jeden die Grenzen zwischen Existenz- und Wohlfühlatmosphäre anders verlaufen.
Mondkalb hat geschrieben:
Mi 22. Apr 2020, 14:41
Finde es derzeit eher traurig, dass sich gerühmt wird mit Nachbarschaftshilfe, diese "Welt seh her ich Teil es" Mentalität. Das Gen der Hilfsbereitschaft sollte auch sonst vorhanden gewesen sein, scheint bei einigen doch diese Situation gebraucht zuhaben, um es zu bemerken.
Bin gespannt auf die Zeit danach, ob der Einfluss auf die Hilfsbereitschaft so prägend sein wird, ich bezweifel es.
Ja, das sehe ich wie du. Traurig, dass es dazu eine Krise braucht, die Menschenleben in ihrer Existenz bedroht.
Die Reaktionen, die ich in meinem Umfeld bzgl. Corona erlebe, haben mich die aktuelle Corona-Situation als eine Zeit des Augen-Öffnens erfahren lassen: Anscheinend ist vielen erst in der Krisenzeit bewusst geworden, wie wichtig Hilfsbereitschaft und gegenseitige Rücksichtnahme sind. Einige entdecken ihr Leben auch noch einmal neu - auch hier gehen gewissermaßen die Augen auf. Ich befürchte, dass das "Gen", wie du es so schön nennst, bei manchen anschließend wieder in einen tiefen Schlummer fällt, wenn erstmal wieder "Alltag" eingekehrt ist.
Mondkalb hat geschrieben:
Mi 22. Apr 2020, 14:41
Wenn Träume oder nennen wir sie Visionen von einem höher, schneller, weiter getrieben werden mit dem Nutzen die Menschheit voranzubringen ist dagegen nichts einzuwenden, erst wenn der Individualismus auf Kosten der Gesellschaft geht, dann wünsche ich mir hier ein Einlenken des Verursachers herbei. Und das Mitnehmen, derer die nicht so können sehe ich wie Du, der Wert jedes Einzelnen macht den einhergehenden Wert meines Lebens aus, was mich aber nicht davon abhält wenn die Gesellschaft ins Verderben rennt das ich mich von ihr löse um meinen Weg zugehen. Mit anderen Worten ich habe z.B. nicht das Verlangen, alles was ich sehe auch besitzen zu müssen. Ersetze meine Gegenstände erst bei Schaden, wodurch ich wohl einer der Letzten mit einem Röhrenfernseher bin.
Ich finde, unser Konsumverhalten spiegelt viel aus unserem Werteempfinden. Allzu oft erlebe ich, wenn Dinge kaputt sind, dass sie dann einfach weggeschmissen werden und man sich stattdessen einen neuen Artikel besorgt. Das hat in mancherlei Hinsicht sicher auch seine Berechtigung, dennoch frage ich mich persönlich immer: "Wie viel liegt mir an dieser Sache? Kann ich sie reparieren oder vielleicht anders einsetzen?" - Das ist auch der Blick, den ich auf das Leben habe.
Ein banales Beispiel:
Neulich ist mein Wasserkocher kaputt gegangen.
Das hat mich erstmal geärgert, weil ich mir gerne einen Tee gekocht hätte und das jetzt nicht ging.
Nächste Frage war dann: wegschmeißen oder reparieren?
Nach einigem Hin und Her stand dann fest, dass reparieren zu keiner Lösung führt. Das Ding war einfach nicht mehr zu retten.
Also stand die Entscheidung fest: Es muss ein neuer Wasserkocher her.
Weil aber Sonntag-Morgen war, standen die Chancen ziemlich schlecht, einen neuen Wasserkocher zu besorgen.
Trotz des frühmorgendlichen Ärgernisses habe ich mir meinen Tag nicht vermiesen lassen und trotzdem meinen Tee bekommen: Der Kochtopf hat es auch getan. Es hat zwar viel länger gedauert, aber umso größer war meine Freude auf den Tee. ;) ;)

Das Beispiel beschreibt eigentlich ganz gut meinen derzeitigen Umgang mit meiner Erkrankung bzw. mit Phasen, in denen es mir nicht so gut geht.
Ich merke, wie viel mir die Erkrankung genommen hat, wenn ich täglich auf Hindernisse und Einschränkungen verschiedenster Art stoße. Manchmal macht mich das traurig, manchmal auch wütend. Ab und an überkommt mich eine solche Phase.
Ich wende dann mein "Wasserkocher-Vorgehen" an:
1. der Wasserkocher ist kaputt = Feststellen: ich komme mit etwas nicht klar; in diesem oder jenem Punkt macht mir meine Krankheit zu schaffen
2. ich bin erschrocken, traurig, wütend, ... darüber, dass der Wasserkocher kaputt ist = wie fühle ich mich? Wie geht es mir mit der Situation?
3. kann der Wasserkocher repariert werden oder muss ein neuer her? = gibt es eine Lösung für meine Situation/Problem? Wer kann mir dabei helfen?
Ich finde Schritt 3 besonders wichtig, denn vom Jammern allein über den kaputten Wasserkocher bekomme ich erstens keinen neuen oder reparierten Wasserkocher und zweitens auch keinen Tee, d.h. der Schritt des Aufblickens und nach vorne Schauen ist für mich so wichtig, weil er mir auch eine Motivationshilfe ist.
4. der Tee ist gekocht, ich sitze mit einer dampfenden Tasse auf dem Sofa und freue mich = dankbar sein für das, was ich (neu) habe

Derzeit muss ich gestehen, hat die Psyche ziemlich zu leiden. Die Wundheilung geht Schritt für Schritt vorwärts, umso deutlicher macht sich nun allmählich bemerkbar, wo die Langzeitfolgen bleiben. Die Hoffnung, die mich während der Zeit im KH und auch in den ersten Wochen zu Hause erfüllt hat, wird nun in die Realität übergeführt und es zeigt sich, welche Hoffnungen sich erfüllen und welche noch für lange Zeit oder vielleicht auch für immer ein Wunsch bleiben werden.

Während meiner Zeit im Mentorat hatte ich einen Kurs besucht, bei dem es darum ging, dem Wert des eigenen Lebens nachzuspüren. In dieser Zeit ging es mir zwar gesundheitlich nicht gerade prickelnd, aber ich hatte noch nicht die Erfahrung der akuten existenziellen Bedrohung gemacht. Diese Woche ist mir ein Briefumschlag in die Hände gekommen, in dem zwei Blätter waren und eine Hand voll Bohnen.
Der erste Text trägt den Titel "Der dicke alte Wollpullover" und stammt von Barbara Pachl-Eberhart aus dem Buch "Vier minus Drei". Die Autorin schildert dabei, wie sie bei einem Autounfall ihren Mann und ihre beiden Kinder verlor und danach zu einem neuen Leben fand. Als ich den Text wieder gelesen habe, sind mir die Tränen gekommen.
Der zweite Text bezog sich auf die Bohnen. Ich möchte ihn kurz schildern:
Man erzählt sich die Geschichte von einer weisen Frau, die sehr, sehr alt wurde und tief glücklich lebte. Sie war eine Lebensgenießerin par Excellence. Nie verließ sie das Haus, ohne eine Handvoll Bohnen einzustecken.
Sie tat dies nicht, um die Bohnen zu verkaufen. Nein, sie nahm sie mit, um so die schönen Momente des Lebens bewusster wahrnehmen zu können. Für jede Kleinigkeit, die sie tagsüber erlebte - so zum Beispiel einen fröhlichen Schwatz auf der Straße, ein köstliches Brot, einen Moment der Stille, das Lachen eines Menschen, eine Tasse Tee, eine Berührung des Herzens, einen schattigen Platz in der Mittagshitze, das Zwitschern eines Vogels - für alles, was die Sinne und das Herz erfreute, ließ sie eine Bohne aus der rechten in die linke Jackentasche wandern.
Manchmal waren es gleich zwei oder drei.
Abends saß sie zu Hause und zählte die Bohnen aus der linken Jackentasche.
Sie zelebrierte die Minuten. So führte sie sich vor Augen, wie viel Schönes ihr an diesem Tag widerfahren war und freute sich.
Und sogar an einem Abend, an dem sie nur eine Bohne zählte, war der Tag gelungen - es hatte sich gelohnt, ihn zu leben.


Für mich ist Dankbarkeit der Schlüssel für Lebensmut und Zuversicht.

Ich danke dir für deine lieben Grüße und guten Wünsche und sende dir herzliche Grüße
Trüffel
Nenne dich nicht arm, weil deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind;
wirklich arm ist nur, der nie geträumt hat.

(Marie von Ebner-Eschenbach)

Benutzeravatar
Mondkalb
könnte auch hier einziehen
Beiträge: 464
Registriert: Fr 21. Dez 2012, 20:32
Diagnose: CU

Re: Psyche fährt Achterbahn

Beitrag von Mondkalb »

Hallo Trüffel,
Trüffel hat geschrieben:
Sa 16. Mai 2020, 11:36
Es bringt mich aber auch zum Nachdenken, dass eben nicht jeder Mensch gleich empfindet und für jeden die Grenzen zwischen Existenz- und Wohlfühlatmosphäre anders verlaufen.
Das ist sicherlich richtig, auch bei meiner Frau und mir verläuft die Existenz- und Wohlfühlatmosphäre teilweise auf unterschiedlichen Ebenen. Meine Frau geht auch gerne schoppen und das soll sie auch. Vor meinem schweren Schub konnte ich sie auch stundenlang dabei begleiten, aber heute mag ich einfach nicht mehr.

Trüffel hat geschrieben:
Sa 16. Mai 2020, 11:36
Konsumverhalten
Hier bin ich der kleine Frugalist und meine Frau sorgt hier für etwas Ausgleich. ;)

Trüffel hat geschrieben:
Sa 16. Mai 2020, 11:36
... meinen derzeitigen Umgang mit meiner Erkrankung ... Ich merke, wie viel mir die Erkrankung genommen hat ...
Hier denke ich gerade an den Thread: Erwartet ihr weniger vom Leben?

Diese Frage habe ich mir mit Nein beantwortet, ich erwarte nicht weniger, sondern etwas anderes als früher vom Leben, es wandelt sich und doch kenne ich auch die Zeit, wo ich diese Frage anders beantwortet hätte, erinnere mich an die Zeit, in der ich mit der Erkrankung überfordert war, keine Besserung in Sicht.

Trüffel hat geschrieben:
Sa 16. Mai 2020, 11:36
Ich finde Schritt 3 besonders wichtig ... = gibt es eine Lösung für meine Situation/Problem? Wer kann mir dabei helfen?
Wichtig ist in guter ärztlicher Behandlung zusein, das Vertrauen zu Ärzten musste ich erst wieder aufbauen und fühle mich heute in sehr guten Händen, leider gibt es Ärzte die sich mit dem Krankheitsbild nicht auskennen, selbst überfordert sind, das habe ich leider nicht erkannt.
Es hat lange gedauert bis ich Deinen Punkt 4 erreichte und bin heute dankbar für das, was ich (neu) habe.
Der Schritt des Aufblickens und nach vorne Schauen, bewahre ihn Dir.

Trüffel hat geschrieben:
Sa 16. Mai 2020, 11:36
Der zweite Text ...
Die Realität ist das womit wir lernen müssen umzugehen, Freude und Leid steckt in ihr. Das Schöne für sich hervorzuheben, gerade in dunklen Stunden, finde ich sehr erstrebenswert.

Danke für die kleine Geschichte und verliere nie den Blick nach vorn.

Liebe Grüße,

Mondkalb
“Wenn man nicht weiß, wo man hin will, kommt man meistens woanders raus!”

Benutzeravatar
Mondkalb
könnte auch hier einziehen
Beiträge: 464
Registriert: Fr 21. Dez 2012, 20:32
Diagnose: CU

Re: Psyche fährt Achterbahn

Beitrag von Mondkalb »

Heute Nacht war mir dieser Austausch in Erinnerung gekommen, habe mir alles nochmals durchgelesen und hierbei muss ich feststellen, wie grausam das Leben an sich sein kann.

Die Psyche fährt Achterbahn, wie passend für die letzten drei Monate bei mir!

Ich habe für mich nicht verstanden, warum ich immer wieder diesen Stuhldrang habe, obwohl keine Entzündung wie die letzte Koloskopie bei mir zeigte vorlag.
Habe das ganze auf die Vernarbungen zurückgeführt ohne jedoch richtige Gewißheit darüber zu haben.

Kurz nachdem ich hier geschrieben habe, dass ich nicht vor den Entscheidungen die Ärzte fällen müssen stehen möchte, befand ich mich in so einer ähnlichen Situation.

Bei Furcht vor dem was unausweichlich ist zu funktionieren, dieses seltsame Gefühl der Unwirklichkeit wenn das Leben aus dem Körper weicht bis letztendlich alles in Trauer übergeht, ist eine Belastung, die der Körper und auch die Seele trägt.

In diesem Moment die Gedanken zu ordnen und alles in die richtige Reihenfolge zu bringen dabei fällt erst gar nicht auf, das der Darm sich in seinem Verhalten verändert hat.
Liegt dies nun an dem Ereigniss was eingetreten ist, und wie könnte so etwas zusammenhängen frage ich mich? Warum ist der Stuhldrang so plötzlich weg? Verstehen tue ich dies nicht!
Seit drei Monaten ist dieses Muster jetzt stabil und ich gewöhne mich langsam an diesen ruhigen und nach meinem Verständnis normalen Darm.

Viele Grüße,

Mondkalb
“Wenn man nicht weiß, wo man hin will, kommt man meistens woanders raus!”

Trüffel
könnte auch hier einziehen
Beiträge: 484
Registriert: Sa 3. Jun 2017, 18:52

Re: Psyche fährt Achterbahn

Beitrag von Trüffel »

Mondkalb hat geschrieben:
Sa 1. Aug 2020, 11:46
Bei Furcht vor dem was unausweichlich ist zu funktionieren, dieses seltsame Gefühl der Unwirklichkeit wenn das Leben aus dem Körper weicht bis letztendlich alles in Trauer übergeht, ist eine Belastung, die der Körper und auch die Seele trägt.
Ich merke, wie mich die Krankheit in all den Jahren verändert hat. Mein Körper hat viel leiden müssen - aber auch die Seele.
Die letzten Jahre waren psychisch/seelisch ein einziges Auf und Ab, ein Achterbahnfahren - von Hoffnung und Zuversicht, Zähnezusammenbeißen, positiven Gedanken, nach-vorne-Schauen... bis zu Wut, Trauer, Verzweiflung, Angst, Enttäuschung...
Am eigenen Körper erleben zu müssen, wie grausam das Leben sein kann, ist sehr schmerzhaft und hinterlässt Spuren.
Die letzten Jahre waren gesundheitlich sehr bitter und voller Rückschläge. Dass das Jahr 2020 es noch toppen konnte, hätte keiner bei uns zu Hause auch nur zu denken gewagt. Auch jetzt ist es noch mehr schlecht als recht; es gibt immer wieder Momente der Hoffnung, aber sobald ich aufatmen will, kommt der nächste Brocken. Trotzdem ist meine "Achterbahnfahrt" ruhiger geworden. Klar gibt es immer wieder Momente, in denen ich dasitze, traurig bin und am liebsten nur heulen möchte (aber inzwischen habe ich erlebt, dass auch meine Mitmenschen solche Momente haben - und die sind gesundheitlich topfit, stehen im Beruf und man könnte meinen, sie seien rundum glücklich). Existenzängste, Höllenschmerzen, Todesängste - das hat mich verändert, aber mir auch gezeigt, wie dankbar ich für jeden Augenblick sein darf, den ich lebe. Atmen zu können, die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren, das Zwitschern der Vögel in den Bäumen zu hören...im HIER und JETZT zu leben - das erlebe ich viel bewusster als früher.

Die Krankheit, das Schicksal anzunehmen und zu verarbeiten ist, so erlebe ich es, ein Prozess, der von Auf und Ab's geprägt ist und sehr lange dauert, vielleicht sogar mein ganzes Leben. Ich spüre auch, dass dieser Prozess auch von Trauer geprägt ist; mein "neues" Leben anzunehmen, bedeutet auch, das "alte" Leben loszulassen - das kann schmerzhaft sein und weh tun und es kann manchmal auch dazu führen, dass ich meine Augen vor der Wirklichkeit verschließe, dass ich mich in Erinnerungen verliere, traurig werde, wütend, enttäuscht...
Im Alltag erlebe ich es so oft, dass Mitmenschen meinen, mit einer Diagnose, ein paar Medikamenten und viel gutem Willen wird alles schon und "das ist ja alles nicht so schlimm". Was eine Krankheit mit einem Menschen machen kann, wie sie ihn verändert, wie auch der Prozess des Annehmens ihn verändert, dass das Leben mit einer Krankheit manchmal ein wirklicher Kampf sein kann und dass Körper UND Seele darunter leiden können, wird immer wieder verdrängt.
Mondkalb hat geschrieben:
Sa 1. Aug 2020, 11:46
Seit drei Monaten ist dieses Muster jetzt stabil und ich gewöhne mich langsam an diesen ruhigen und nach meinem Verständnis normalen Darm
Wenn dein Darm so ruhig bleibt, wäre das herrlich und das wünsche ich dir wirklich sehr!

LG Trüffel
Nenne dich nicht arm, weil deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind;
wirklich arm ist nur, der nie geträumt hat.

(Marie von Ebner-Eschenbach)

Benutzeravatar
Mondkalb
könnte auch hier einziehen
Beiträge: 464
Registriert: Fr 21. Dez 2012, 20:32
Diagnose: CU

Re: Psyche fährt Achterbahn

Beitrag von Mondkalb »

Hallo Trüffel,

ich lese viel im Stillen mit und verfolge sehr interessiert deinen Werdegang. Die Veränderung durch die Krankheit die haben wir gemein.
Deine Offenheit darüber zu schreiben, wie es dir geht, wie es in dir aussieht, schätze ich sehr.

Wie ich oben schon geschrieben habe, die Realität ist das womit wir lernen müssen umzugehen, Freude und Leid steckt in ihr. Das Schöne für sich hervorzuheben, gerade in dunklen Stunden, finde ich sehr erstrebenswert. Auch in dieser für mich schwierigen Zeit bin ich dankbar, dass ich meinen Papa begleiten durfte. Er hat hinterher bei seinen Medikamenten auch nicht mehr durchgeblickt, dass was hier im Forum auch schon Thema war, es waren immer neue Hersteller und Verpackungen welche ihm in seinem Alter verunsichert und durcheinandergebracht haben.
Die von dir angesprochene Veränderung habe ich die letzten zwei Jahre auch sehr stark bei ihm bemerkt.

Das Leben läuft für die einen unbeschwert und dann gibt es uns wo immer irgendetwas ansteht.

Mein Bruder empfiehlt mir immer etwas lockerer zu werden, er ist eher der Typ mit dem Tattoo am Körper und der Einstellung alles easy und ich bin der, der die Harnleiterschiene versenkt bekommt.

Ich habe die letzten Jahre geändert, was ich verändern konnte und geduldig über mich ergehen lassen, was angestanden hat, mit dem zeitweisen Stuhldrang hatte ich mich irgendwie arrangiert auch wenn es genervt hat, also soweit alles gut. Was ich halt nicht erblicke, in dieser Situation ist, warum der Stuhldrang so schlagartig weg ist, war dieser am Ende wirklich psychisch bedingter Natur und die Vernarbungen im Darm haben damit nichts zutun? … es bleibt mir ein Rätsel!

Trüffel hat geschrieben:
Sa 1. Aug 2020, 14:41
Im Alltag erlebe ich es so oft, dass Mitmenschen meinen, mit einer Diagnose, ein paar Medikamenten und viel gutem Willen wird alles schon und "das ist ja alles nicht so schlimm".
Das kommt bei der Vielfalt der Menschen immer wieder vor, dann sollte man nicht zu genau hinhören und vielleicht versuchen dem Rat meines Bruders zu folgen und im Umgang mit diesen Menschen lockerer werden, sonst wird es am Ende ein Weg der viel Energie und Kraft kostet, die man in diesen Momenten gar nicht übrig hat.
Ich habe am Anfang versucht, mich zu erklären, hinterher habe ich es dann aufgegeben.

Trüffel hat geschrieben:
Sa 1. Aug 2020, 14:41
Wenn dein Darm so ruhig bleibt, wäre das herrlich und das wünsche ich dir wirklich sehr!
Danke Trüffel, ich hätte nichts dagegen, wenn die Ruhe im Darm nun bleibt.

Liebe Grüße,
Mondkalb
“Wenn man nicht weiß, wo man hin will, kommt man meistens woanders raus!”

Trüffel
könnte auch hier einziehen
Beiträge: 484
Registriert: Sa 3. Jun 2017, 18:52

Re: Psyche fährt Achterbahn

Beitrag von Trüffel »

Nach einigen Monaten Pause melde ich mich wieder einmal für ein Update.
Wie geht es dir, Mondkalb? Was macht der Darm? Ist er ruhig oder hat er sich etwas Neues (?) einfallen lassen?

Mein Körper fährt kontinuierlich Achterbahn bergab, meine Psyche ist trotz der physischen Talfahrt doch ziemlich stabil. Wahrscheinlich härtet man mit der Zeit ab. ?? :lol:
Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mich (längst) nicht mehr mit anderen vergleiche. Ich kenne so viele Patienten, bei denen der Wendepunkt erreicht ist, wo es umschlägt und sich alles zum Positiven wandelt, während es bei mir gegenteilig verläuft, es von Jahr zu Jahr schlimmer wird und mich mein Körper immer wieder aufs Neue damit überrascht, welchen Scheiß er sich noch alles einfallen lässt. Wahrscheinlich macht er es deshalb, damit mir bloß nicht langweilig wird. Irgendwie hab ich (m)einen eigenen Humor entwickelt, mit dem Ganzen umzugehen.
Wenn der Blick nach vorne nur dunkle Wolken zeigt, hilft mir der Blick nach hinten, um zu sehen, was ich schon alles geschafft und überstanden habe. Und insofern können dann furchtbare Scheiß-Zeiten tatsächlich zu fruchtbaren Kopf-Hoch-Zeiten werden. ;)
Seit einem Jahr lebe ich jetzt mit offenem Bauch. Was anfangs echt der Wahnsinn für mich und meine Familie war und sich wie ein Albtraum angefühlt hat, ist mittlerweile ganz normaler Alltag, der dazugehört wie für andere das Zähneputzen. Aquacel und Durafiber, egal ob mit oder ohne Silber, Polyhexanid und chirurgische Pinzetten gehören zu meinem Alltag wie für andere die Tasse Kaffee am Morgen.
Meine Kommilitonen zerbrechen sich den Kopf darüber, ob, wann und wie sie in den Urlaub fahren können. Da hab ich es um Einiges besser: Allein im letzten Jahr war ich mehr als acht Mal mit meinem Anästhesisten auf Reisen. Mit dem OP-Personal bin ich mittlerweile schon per Du und mein Anästhesist scherzt schon, wenn ich so weiter mache, dann hab ich bald die ganze Welt bereist. (zum besseren Verständnis: für jede Narkose suche ich mir einen anderen Urlaubsort aus) Die Schwestern im OP scherzen immer, ob ich diesmal nicht selber instrumentieren oder meine Narkose einleiten möchte („als Stammpatient ist das für Sie doch kein Problem – das hier ist Ihr zweites Zuhause“). :lol:
Wenn ich so oft in Urlaub fahren würde, wie ich im Krankenhaus bin, wären meine Mitmenschen echt neidisch auf mich - kaum bin ich aus dem Krankenhaus draußen, geht es für die nächste OP schon wieder rein.
Klar kommt manchmal die Frage auf „Warum ich?“ oder „Warum wird es bei mir nicht besser?!“, aber das bringt mich nicht weiter.
Ich kann inzwischen damit leben, dass irgendwo immer eine Baustelle ist – Abszesse, Fisteln, Darmverschluss, Ulcus… Das einzige, das mich echt nervt, ist, wenn meine Ärzte nicht ehrlich zu mir sind, wenn sie mich anlügen, mir Informationen vorenthalten oder nur die halbe Wahrheit erzählen.
Allein für eine meiner gastroenterologischen Baustellen nehme ich über zehn Medikamente ein – in Höchstdosis und sogar darüber hinaus (alles auf ärztliche Verordnung hin). Über Risiken und Nebenwirkungen werde ich in keinster Weise aufgeklärt. Die Mutter einer Freundin ist Apothekerin und hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als ich ihr davon erzählt hab. Ich hab nun die Wahl: entweder ich mache bei meinen Ärzten den Mund auf und riskiere damit, dass sie mich „abschieben“ und nicht mehr behandeln (weil Patient ja die Therapie „verweigert“) oder aber ich bringe mich mit den ganzen Medikamenten peu a peu um. Dank der Kombi und der irren Dosierungen plus meiner allgemein echt schlechten gesundheitlichen Konstitution bin ich vollkommen ausgeknockt, lieg seit Monaten nur noch im Bett, kann mein Studium nicht fortsetzen, bin wieder mal oder immer noch vom Leben abgehängt… Jahr für Jahr geht ins Land. Die Aussichten sind nicht gerade rosig. So wie’s aussieht, sind weitere große OPs unvermeidlich – die Ärzte sagen mir inzwischen aber auch, dass sie nicht wissen, wie ich das überleben soll, weil allein schon der Bauch einem Trümmerfeld gleicht.
Ich mach mich nicht verrückt – das würde ja ohnehin nichts ändern. Schritt für Schritt, Tag für Tag. Und am Ende wird alles gut. ;)
Nenne dich nicht arm, weil deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind;
wirklich arm ist nur, der nie geträumt hat.

(Marie von Ebner-Eschenbach)

Benutzeravatar
Mondkalb
könnte auch hier einziehen
Beiträge: 464
Registriert: Fr 21. Dez 2012, 20:32
Diagnose: CU

Re: Psyche fährt Achterbahn

Beitrag von Mondkalb »

Meine liebe Trüffel,

Danke für dein Update und der Nachfrage nach meinem Befinden.
Trüffel hat geschrieben:
So 24. Jan 2021, 20:35
Wie geht es dir, Mondkalb? Was macht der Darm? Ist er ruhig oder hat er sich etwas Neues (?) einfallen lassen?
Derzeit bin ich einfach kraftmäßig ziemlich durch, komme gerade jetzt im Januar etwas zu Ruhe und doch ist die Situation noch im Istzustand leider somit noch nicht vorbei.

Mein Darm hat sich in der Situation gerade in der Zeit von Ende Oktober vergangenen Jahres bis zum Ende des Dezembers hinein wieder überwiegend friedlich gezeigt. Mein Arbeitgeber strukturiert sich neu auf Konzernebene um, was sich seit März 2020 schon abzeichnete.
Im Oktober ist die Situation dann eskaliert, es folgte Freistellung des Betriebsrats, der Versuch, das Willkürliche abschieben von ungeliebten Mitarbeitern samt BR in eine Transfergesellschaft, der Versuch, zwischen dem BR und der Belegschaft einen Keil zu treiben und der Versuch, die Situation vor Gericht klären zulassen, um es nur mal anzuschneiden, was bei uns passierte. Für mich war/ist das Ganze filmreif, wobei ich nicht nur einmal in den Verhandlungen mich dabei erwischte, mir die Frage zu stellen: Was passiert hier?

Die Worte von Thilo kamen mir in Erinnerung, der Kündigungsschutz ist wirklich nur ein Hauch von nichts und wurde aggressiv versucht, genau wie das Mitbestimmungsrecht des BR, zu übergehen.

Meinem Gastro habe ich während einer Routineuntersuchung gesagt, das sich bei mir die Angst wieder ausbreitet, das der Darm wieder anfängt zu rebellieren. Er hat mich direkt beruhigt und mir einen Weg gezeigt, wie wir gegensteuern und frühzeitig reagieren können.
Letztendlich ist aber vom Darm her wie zuvor schon geschrieben, im Augenblick weiterhin alles zu meiner Zufriedenheit.

Unterm Strich kam bei mir die letzten Monate, wie bei dir, keine Langeweile auf, wobei mein Weg wie ich lese, doch der leichtere war. :?
Trüffel hat geschrieben:
So 24. Jan 2021, 20:35
Wahrscheinlich härtet man mit der Zeit ab. ??
Rückblickend pflichte ich dir hier bei, vieles kommt vielleicht mit dem Alter, mit den Erfahrungen, die man durchlebt. Wenn man die Gefahr ausschließt, dass man sich etwas vormacht, was es leider auch gibt, wie ich bei einem Kollegen festgestellt habe, dann kann Alter und Erfahrung festigen, um mit seiner individuellen Situation besser klar zukommen.
Trüffel hat geschrieben:
So 24. Jan 2021, 20:35
Ich kenne so viele Patienten, bei denen der Wendepunkt erreicht ist, wo es umschlägt und sich alles zum Positiven wandelt,...
Auf diese Gedanken solltest du weiterhin aufbauen Trüffel aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer das sein kann, habe daran eine Zeit lang auch nicht mehr geglaubt, hatte die Entwicklung angetreten, zu einem imaginären Freund, die Sehnsucht nach dem Tod, heute gehöre ich zu den vielen Patienten, die anscheinend den Wendepunkt erreicht haben.
Trüffel hat geschrieben:
So 24. Jan 2021, 20:35
Wenn der Blick nach vorne nur dunkle Wolken zeigt, hilft mir der Blick nach hinten, um zu sehen, was ich schon alles geschafft und überstanden habe.
Wenn ich du wäre, ich hoffe mir ist diese Wortwahl erlaubt an dieser Stelle wäre ich Stolz und anerkennend zu mir selbst, bei dem, was du alles bisher gemeistert hast. Ich ziehe meinen imaginären Hut vor dir und bin beeindruckt von deiner Stärke, die du aufbringst.
Trüffel hat geschrieben:
So 24. Jan 2021, 20:35
Allein im letzten Jahr war ich mehr als acht Mal mit meinem Anästhesisten auf Reisen.
Mit Humor geht vieles leichter, das ist ein guter Weg, wie ich finde, um damit umzugehen. :lol:
Trüffel hat geschrieben:
So 24. Jan 2021, 20:35
Klar kommt manchmal die Frage auf „Warum ich?“ oder „Warum wird es bei mir nicht besser?!“, aber das bringt mich nicht weiter.
In diese Fragen Energie zu stecken wäre vertane Zeit, auch wenn es schwerfällt, sich hier nicht in Gedanken zu verlieren.
Trüffel hat geschrieben:
So 24. Jan 2021, 20:35
Das einzige, das mich echt nervt, ist, wenn meine Ärzte nicht ehrlich zu mir sind, wenn sie mich anlügen, mir Informationen vorenthalten oder nur die halbe Wahrheit erzählen.
Hier kommt mir die Frage in den Sinn: Worin gleichen sich Ärzte und Geschäftsführungen? (Natürlich gibt es Ausnahmen! :lol: )
Trüffel hat geschrieben:
So 24. Jan 2021, 20:35
(... alles auf ärztliche Verordnung hin...)
Hierzu fällt es schwer, etwas zu schreiben, was ist richtig, was ist notwendig, welches Medikament wird benötigt, um eine Nebenwirkung eines anderen Medikaments aufzuheben.
Bei meinem Papa habe ich die Menge an Medikamenten auch nicht verstanden, die ihm persönlich zu viel waren, aber in ihrer Vielzahl letztendlich nötig und dem Arzt kein Vorwurf zu machen.

Eine Aufklärung über die Nebenwirkungen meiner Medikamente habe ich eigentlich auch nie von Ärzten Erfahren. Mein Apotheker wirft aber einen Blick darauf, ob ich irgendetwas zu beachten habe, wenn ein Medikament dazu kommt und beantwortet meine Fragen bei Bedarf.
Hier im Forum kommt auch immer wieder Erfahrung und auch Hinweise zum Vorschein, das man für sich selbst verantwortlich ist.
Wenn du bei deinen Ärzten den Mund aufmachst, kommt es ja auch auf den Ton an, das Zeitfenster, welches die Ärzte haben und ihrer Einstellung dem Patienten gegenüber. Eine pauschalisierte Annahme, wie du von den Ärzten behandelt wirst, bringt dich auch nicht weiter.

Meine vergangene Ärztin hat mich damals aus der Praxis „geworfen“, da ich ihr vorgeworfen habe, versagt zu haben und nicht auf mich eingegangen ist, mein jetziger Arzt nimmt sich Zeit und hört zu.
Trüffel hat geschrieben:
So 24. Jan 2021, 20:35
Schritt für Schritt, Tag für Tag. Und am Ende wird alles gut.
So ist es am besten, solange Frau wirklich daran glaubt. ;)


Jetzt schicke ich dir Trüffel ganz liebe Grüße,
bis bald, Mondkalb
“Wenn man nicht weiß, wo man hin will, kommt man meistens woanders raus!”

Trüffel
könnte auch hier einziehen
Beiträge: 484
Registriert: Sa 3. Jun 2017, 18:52

Re: Psyche fährt Achterbahn

Beitrag von Trüffel »

Hallo Mondkalb,

oh das klingt aber nicht gerade nach einer leichten Zeit, was du da berichtest. Als ob man im falschen Film wäre... :cry:
Ich dachte immer, auf Kündigungsschutz und Co. sei verlass - aber wo ein Wille, da ein Weg; und anscheinend hat hier jemand einen ziemlich starken Willen. Das ist einfach nur traurig, macht betroffen und fassungslos.
Mit dem Gastro so offen über die Angst sprechen zu können, ist dahingehen umso schöner, v.a. dass er deine Sorge und Angst auch ernst nimmt und nicht einfach abtut. Ihr scheint ein gutes Team zu sein, zumindest mein Eindruck. Oder täusche ich mich da?
Ach nein, dass dein Weg so viel leichter war, glaub ich nicht! Für mich wär das absolut der Horror, was du da durchmachen musst(est). :shock:
Mondkalb hat geschrieben:
So 31. Jan 2021, 16:11
Auf diese Gedanken solltest du weiterhin aufbauen Trüffel aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer das sein kann, habe daran eine Zeit lang auch nicht mehr geglaubt, hatte die Entwicklung angetreten, zu einem imaginären Freund, die Sehnsucht nach dem Tod, heute gehöre ich zu den vielen Patienten, die anscheinend den Wendepunkt erreicht haben.
Die Hoffnung stirbt zuletzt. ;) Klaro bleibt der Blick nach vorne Positiv; es darf "scheiß 5 Minuten" geben (so nenn ich meine "Krisenphasen" mit einem weinenden und einem lachenden Auge). Hab einen sehr engen Draht zur Klinikseelsorge (wo ich später auch arbeiten will) und habe oft genug erlebt, dass auch gesunde Menschen ihre Krisenzeiten haben. Also auch Menschen ohne CED und/oder anderen (gesundheitlichen) Problemen haben mal einen schlechten Tag. Das gehört zum Leben dazu. Aber durch die Krankheit hab ich zwischenzeitlich mal "verlernt" (oder vergessen), dass das eigentlich ganz normal ist. Das Leben ist halt nicht nur Sonnenschein - weder für Gesunde noch für Kranke.
Am Anfang des Diagnostikmarathons (meine Beschwerden habe ich im Grunde ja schon seit dem Kindergarten, aber wirklich nachgeforscht hat man erst Jahre später) - als ich Tag und Nacht nur noch auf der Toilette gehangen und die Schüssel rot von Blut war und ich einfach nicht mehr wusste, wie es weitergeht und zusammengekrümmt wie ein Igel auf dem Badezimmerboden übernachtet habe, weil ich es sonst nicht mehr rechtzeitig aufs Klo geschafft habe - habe ich so manches Mal die Augen geschlossen und mir nichts sehnlicher gewünscht, als einfach einzuschlafen und nie mehr aufzuwachen.
Lange habe ich mich nicht getraut, jemandem davon zu erzählen, weil ich Angst hatte, dass man mich dann als suizidgefährdet einstuft oder aus sonst irgendeinem Grund in die Klapse abschiebt. Mit einem Bekannten, der in der Psychologie und Seelsorge tätig ist, habe ich dann mal darüber gesprochen und er meinte, dass solche Gedanken und Gefühle völlig normal seien. Ich hatte mir nie Gedanken gemacht, aktiv etwas zu tun, damit ich sterbe. Ich konnte nur einfach nicht mehr und hab mir gedacht, dass es das beste sei, von all dem Leid erlöst zu werden.
Meine Eltern haben mir in dieser Zeit Meerschweinchen geschenkt und indem ich die Verantwortung für sie hatte, war für mich klar, dass ich dem Gedanken, mich aufzugeben, nicht nachgeben durfte: Ich musste schließlich für meine kleinen Vierbeiner da sein! - Nach wie vor sind Tiere die absolut beste Therapie für mich. Sie können stundenlang zuhören, auch ohne dass ich dabei laut sprechen muss. Ob verbal oder nonverbal - wir verstehen uns immer.

...Ja und dass es Patienten gibt, bei denen es aufwärts geht und bei einem selbst nicht. Eigentlich ist es so sinnlos, sich mit anderen zu vergleichen. :roll: Das macht die Situation ja nicht besser. Und es ist ohnehin kein Mensch wie der andere. Jeder empfindet auf seine Weise. Ich kann mich noch gut erinnern, wie schlimm es für meine Kommilitonin war, als sie sich mit ihrem Finger an einem Papier geschnitten hatte. Das war der reinste Weltuntergang für sie. Für mich wird es schlimm, wenn der Doc einen ZVK legt und nach dem fünften gescheiterten Versuch verzweifelt den Kopf schüttelt, während ich in Kopf-Tief-Lage darüber nachdenke, wer von uns beiden sich nun sehnlicher das Loch im Boden wünscht: er oder ich. :oops:

Eigentlich wollte ich mein Semester (es ist mein drittes) mal ohne Komplikationen abschließen und zu meinen Prüfungen antreten. An den online-Vorlesungen nehme ich eigentlich nur teil, damit ich mich vom Kranksein ablenke, an Prüfungen kann ich nicht denken - die nächsten Wochen sind voll gebucht mit KH. Der nächste "Urlaub" steht an.
Der Chirurg hat heute angerufen und mich über die nächste OP aufgeklärt, wird wieder ein großer Schnitt. Angst davor habe ich nicht, ist ja schon irgendwo "normal". Mir wird wohl echt mal was fehlen, wenn es mal einen Monat ohne KH gibt. Aber dann ist hoffentlich Corona vorbei und ich bin nicht nur im Traum auf den Kanaren, sondern in real-life. :lol:

Stark und tapfer fühle ich mich nicht, oft genug ist es eher das Gegenteil. Ich bin einfach glücklich, am Leben zu sein, atmen zu können, den Sonnenschein auf meiner Haut zu spüren, bei meinen Tieren zu sein, sie zu streicheln und mir Gedanken über Zeit und Ewigkeit zu machen.
Ich hab dieses Semester ein Seminar besucht zur Theologie der Behinderung. Wie erwartet war es ein sehr sehr kleiner Kurs und ich fand es irre spannend zu erleben, wie andere Nicht-behinderte-Menschen über Behindert-Sein denken. Früher war ich schwerbehindert nur auf dem Papier - ich hatte meinen Schwerbehindertenausweis, der mir halt meinen GdB bestätigt hat. Aber beeinträchtigt oder behindert habe ich mich tatsächlich nicht gefühlt. An meiner Schwerbehinderung hat sich nichts geändert, aber ich spüre die Behinderung und Einschränkungen nun nur zu gut. Gerade dadurch, dass sie nicht sichtbar ist, merkt mein Umfeld davon herzlich wenig.
Hab neulich mit Schulfreundinnen gezoomt und zum Abschluss haben wir statt des üblichen Erinnerungsfotos in life einen Screenshot vom Bildschirm gemacht. Ich hab das Bild dann meiner Familie gezeigt. Und die meinte prompt, dass ich diejenige sei, die am fröhlichsten, gesündesten und fittesten aussehe. Ich vermute, das liegt daran, dass ich die Endlichkeit des Lebens am eigenen Körper erfahren habe und verinnerlicht habe, dass das Leben nicht selbstverständlich ist - und genau das sieht man, wenn ich lache. Gleichzeitig habe ich aber auch eine Art "fake-Lachen" antrainiert, d.h. gerade weil man von außen ja nicht sieht, wie's mir wirklich geht, erlebe ich so oft Unverständnis und Rücksichtslosigkeit. Um mich vor blöden Kommentaren zu schützen, hab ich eine Art pokerface entwickelt, eine imaginäre Maske, die ich überziehe. Ist manchmal ein prima Schutz nach außen, erschwert es aber auch, dass andere Menschen daran teilhaben, wie's mir wirklich geht. Das Verhältnis zu meinen Schulfreundinnen hat sich über die Jahre und v.a. durch die Krankheit sehr verändert (es hätte sich auch ohne Krankheit verändert, allein der räumlich-zeitliche Abstand sorgt dafür, aber vielleicht wäre es eine andere Art der Veränderung gewesen) und ich hab auch den Eindruck, sie verstehen meine Situation und die ganze Geschichte nicht richtig (wie auch - sie erleben es ja nicht Tag für Tag und sie selbst sind ja kerngesund). Einzig eine Freundin, die kurz vor ihrer Approbation als Ärztin ist, hat eine Ahnung davon - allerdings hauptsächlich von medizinischer Seite her. Und die Sicht des Arztes ist mit der des Patienten nicht gerade gleichzusetzen.
Mondkalb hat geschrieben:
So 31. Jan 2021, 16:11
Hier kommt mir die Frage in den Sinn: Worin gleichen sich Ärzte und Geschäftsführungen? (Natürlich gibt es Ausnahmen! )
Deinen Vergleich finde ich wunderbar treffend!
Über all die Jahre schreibe ich mehr oder weniger regelmäßig Tagebuch. Erst neulich habe ich alte Aufzeichnungen durchgeblättert und bin bei einer Aussage hängen geblieben: "Nach den Verbandswechseln liege ich immer wie tot im Bett. Es dauert, bis sich die Schmerzen wieder beruhigen und ich mich von den zurückliegenden Minuten halbwegs erhole. Egal wie laut und viel ich während der Wundversorgung heule und schreie, ich bekomme kein Schmerzmittel, nicht einmal ein mitleidiges Lächeln. Noch nie war mir so bewusst, wie abgebrüht Chirurgen eigentlich sein können."
Und dann gibt es zugleich das Gegenteil: wunderbare Ärzte, die ein wahrer Segen sind. (Aber das ist - zumindest meiner Erfahrung nach - leider sehr sehr selten :( )

Ei ei ei, jetzt ist es so lang geworden...
Ich freue mich sehr über unseren - manchmal, wie ich finde, durchaus philosophischen - Austausch. ;)
Wir halten weiterhin die Ohren steif und machen das Beste draus!

Von Herzen liebe Grüße!
Trüffel
Nenne dich nicht arm, weil deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind;
wirklich arm ist nur, der nie geträumt hat.

(Marie von Ebner-Eschenbach)

Trüffel
könnte auch hier einziehen
Beiträge: 484
Registriert: Sa 3. Jun 2017, 18:52

Re: Psyche fährt Achterbahn

Beitrag von Trüffel »

Und noch ein klitzekleiner Nachtrag: Ich musste gerade meinen Beitrag überarbeiten und Smileys rausstreichen. :lol: Beim Abschicken hat es mir nämlich angezeigt, dass man nur max. 10 Smileys pro Eintrag verwenden darf. :?: Das ist mir auch noch nie passiert. :? :D
Deswegen jetzt noch ein Nachtrag: :lol:
Nenne dich nicht arm, weil deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind;
wirklich arm ist nur, der nie geträumt hat.

(Marie von Ebner-Eschenbach)

Benutzeravatar
Mondkalb
könnte auch hier einziehen
Beiträge: 464
Registriert: Fr 21. Dez 2012, 20:32
Diagnose: CU

Re: Psyche fährt Achterbahn

Beitrag von Mondkalb »

Hallo Trüffel,
Trüffel hat geschrieben:
Do 4. Feb 2021, 19:33
Ich dachte immer, auf Kündigungsschutz und Co. sei verlass - aber wo ein Wille, da ein Weg;
Der Kündigungsschutz ist schon dahingehend gut für AN, gibt er doch die Möglichkeit, sich durch eine Kündigungsschutzklage einer Willkür durch den AG entgegenzustellen, eine Entlassungsentschädigung, die den Abschied versüßt, kommt aber letztendlich meistens dabei heraus und der Wille des AG wird dadurch nur teurer für ihn selbst.
Es ist nicht einfach, im Vorfeld zu erkennen, was das beste für die Mitarbeiter im Ganzen ist, nicht nur den Blickwinkel auf die zu richten, die bleiben, sondern auch auf die, die gehen sollen. Welche Informationen stimmen und was ist manipulativ, Restzweifel begleiten einen, während sich ein Bild ergibt und man Sicherheit für seine Entscheidung findet. Was ist nur Drohkulisse des AG, welche Drohungen werden im Anschluss zur Realität. Nur einmal grob angerissen bei einem Interessenausgleich, der mit Namensliste versehen ist, hat der AG eine erhebliche Erleichterung, sich von Mitarbeitern zu trennen und somit eine angenehme Alternative zu den Kündigungsschutzklagen.

Daneben klärt man seine persönlichen Angelegenheiten mit dem AG und doch kann ich dieser Situation entfliehen, das Leben ist hier voller individuellen Möglichkeiten, der Darm jedoch gibt mir diese Einfachheit unter Umständen nicht, er ist dann bestimmend und lähmend zugleich, sowie leider derzeit auch bei dir. Wäre die Darmgeschichte nicht gewesen, wäre mein beruflicher Werdegang mit Sicherheit auch ein anderer gewesen.

Das nur so mal am Rande soll ja nicht unser Thema sein. ;)
Trüffel hat geschrieben:
Do 4. Feb 2021, 19:33
Ihr scheint ein gutes Team zu sein, zumindest mein Eindruck.
Das kann ich bestätigen, fühle mich bei ihm gut aufgehoben und habe ihm auch gesagt, dass ich seit langem Mal wieder Vertrauen zu einem Arzt habe. Die Koloskopien sind genial bei ihm, kaum Luft im Bauch nach der Kolo, schaue zu, er erklärt Live, was er sieht, Fragen werden direkt beantwortet und am Ende bekomme ich einen Café mit Keks. Er war auch der einzige Arzt im Umkreis, der meinen Medikamentenänderungswunsch mitgetragen hat.

Damals sollte ich meine Patientenakte mitbringen, er hat sie sich an einem Wochenende angeschaut und mich danach direkt neu eingestellt und ist meinem Wunsch nachgekommen.

Ich mag ihn.
Trüffel hat geschrieben:
Do 4. Feb 2021, 19:33
weil ich es sonst nicht mehr rechtzeitig aufs Klo geschafft habe
Dem Gutachter habe ich damals auf seine Frage, wie oft ich den auf den Abort gehe, geantwortet bis zu 16-mal am Tag. Seiner Meinung nach war das ja gar nichts. Kommt drauf an - habe zwischen einer halben bis dreiviertel Stunde jeweils draufgesessen, der Unterleib zog sich zusammen und aufstehen konnte ich nicht. Da verschwand sein zuvor hervorgebrachtes Lächeln.
Trüffel hat geschrieben:
Do 4. Feb 2021, 19:33
oft genug erlebt, dass auch gesunde Menschen ihre Krisenzeiten haben.
Dem ist nicht zu widersprechen, dem ist so.
Trüffel hat geschrieben:
Do 4. Feb 2021, 19:33
Klinikseelsorge (wo ich später auch arbeiten will)
Schön zu lesen, dass du dich beruflich in der Vorstellung neu orientierst, offen für Neues bist. Einfühlsamkeit bringst du dafür auf jeden Fall mit. ;)
Trüffel hat geschrieben:
Do 4. Feb 2021, 19:33
Psychologie und Seelsorge
Ich war auch lange Zeit in psychosomatischer Behandlung, man wird durch diesen Umstand einfach nur Müde, das Leben wirkt trostlos und man sehnt sich,... ich kann das gut nachvollziehen.
Trüffel hat geschrieben:
Do 4. Feb 2021, 19:33
Der nächste "Urlaub" steht an.
Ich wünsche dir von Herzen, das bald ein Urlaub in real-life auf dich zukommt!
Trüffel hat geschrieben:
Do 4. Feb 2021, 19:33
dass ich die Endlichkeit des Lebens am eigenen Körper erfahren habe und verinnerlicht habe, dass das Leben nicht selbstverständlich ist -
Hier bist du vielen Menschen einen Schritt voraus, kein Funke von Oberflächlichkeit bist offen, gehst in die Tiefe deiner Gefühle, was heutzutage sehr selten ist und trägst sie an diesem Ort nach außen heraus.
Mir macht unser Austausch auch sehr viel Freude, ist er doch nicht so oberflächlich wie mit vielen Menschen in meinem Umfeld.

Auf jeden Fall halten wir die Ohren steif und lassen uns nicht unterkriegen! ;)

Freue mich schon heute wieder erneut von dir zu lesen und hoffe, dass deine anstehende OP Besserung für dich hervorbringt!

Liebe Grüße, sendet dir
Mondkalb
“Wenn man nicht weiß, wo man hin will, kommt man meistens woanders raus!”

Antworten