Deine Aussage kann ich auf einen Großteil meiner Bekannten 1:1 übertragen. Über deren Statements schüttel ich dann manchmal nur den Kopf und lass sie einfach reden. Es bringt mich aber auch zum Nachdenken, dass eben nicht jeder Mensch gleich empfindet und für jeden die Grenzen zwischen Existenz- und Wohlfühlatmosphäre anders verlaufen.
Ja, das sehe ich wie du. Traurig, dass es dazu eine Krise braucht, die Menschenleben in ihrer Existenz bedroht.Mondkalb hat geschrieben: ↑Mi 22. Apr 2020, 14:41Finde es derzeit eher traurig, dass sich gerühmt wird mit Nachbarschaftshilfe, diese "Welt seh her ich Teil es" Mentalität. Das Gen der Hilfsbereitschaft sollte auch sonst vorhanden gewesen sein, scheint bei einigen doch diese Situation gebraucht zuhaben, um es zu bemerken.
Bin gespannt auf die Zeit danach, ob der Einfluss auf die Hilfsbereitschaft so prägend sein wird, ich bezweifel es.
Die Reaktionen, die ich in meinem Umfeld bzgl. Corona erlebe, haben mich die aktuelle Corona-Situation als eine Zeit des Augen-Öffnens erfahren lassen: Anscheinend ist vielen erst in der Krisenzeit bewusst geworden, wie wichtig Hilfsbereitschaft und gegenseitige Rücksichtnahme sind. Einige entdecken ihr Leben auch noch einmal neu - auch hier gehen gewissermaßen die Augen auf. Ich befürchte, dass das "Gen", wie du es so schön nennst, bei manchen anschließend wieder in einen tiefen Schlummer fällt, wenn erstmal wieder "Alltag" eingekehrt ist.
Ich finde, unser Konsumverhalten spiegelt viel aus unserem Werteempfinden. Allzu oft erlebe ich, wenn Dinge kaputt sind, dass sie dann einfach weggeschmissen werden und man sich stattdessen einen neuen Artikel besorgt. Das hat in mancherlei Hinsicht sicher auch seine Berechtigung, dennoch frage ich mich persönlich immer: "Wie viel liegt mir an dieser Sache? Kann ich sie reparieren oder vielleicht anders einsetzen?" - Das ist auch der Blick, den ich auf das Leben habe.Mondkalb hat geschrieben: ↑Mi 22. Apr 2020, 14:41Wenn Träume oder nennen wir sie Visionen von einem höher, schneller, weiter getrieben werden mit dem Nutzen die Menschheit voranzubringen ist dagegen nichts einzuwenden, erst wenn der Individualismus auf Kosten der Gesellschaft geht, dann wünsche ich mir hier ein Einlenken des Verursachers herbei. Und das Mitnehmen, derer die nicht so können sehe ich wie Du, der Wert jedes Einzelnen macht den einhergehenden Wert meines Lebens aus, was mich aber nicht davon abhält wenn die Gesellschaft ins Verderben rennt das ich mich von ihr löse um meinen Weg zugehen. Mit anderen Worten ich habe z.B. nicht das Verlangen, alles was ich sehe auch besitzen zu müssen. Ersetze meine Gegenstände erst bei Schaden, wodurch ich wohl einer der Letzten mit einem Röhrenfernseher bin.
Ein banales Beispiel:
Neulich ist mein Wasserkocher kaputt gegangen.
Das hat mich erstmal geärgert, weil ich mir gerne einen Tee gekocht hätte und das jetzt nicht ging.
Nächste Frage war dann: wegschmeißen oder reparieren?
Nach einigem Hin und Her stand dann fest, dass reparieren zu keiner Lösung führt. Das Ding war einfach nicht mehr zu retten.
Also stand die Entscheidung fest: Es muss ein neuer Wasserkocher her.
Weil aber Sonntag-Morgen war, standen die Chancen ziemlich schlecht, einen neuen Wasserkocher zu besorgen.
Trotz des frühmorgendlichen Ärgernisses habe ich mir meinen Tag nicht vermiesen lassen und trotzdem meinen Tee bekommen: Der Kochtopf hat es auch getan. Es hat zwar viel länger gedauert, aber umso größer war meine Freude auf den Tee.
Das Beispiel beschreibt eigentlich ganz gut meinen derzeitigen Umgang mit meiner Erkrankung bzw. mit Phasen, in denen es mir nicht so gut geht.
Ich merke, wie viel mir die Erkrankung genommen hat, wenn ich täglich auf Hindernisse und Einschränkungen verschiedenster Art stoße. Manchmal macht mich das traurig, manchmal auch wütend. Ab und an überkommt mich eine solche Phase.
Ich wende dann mein "Wasserkocher-Vorgehen" an:
1. der Wasserkocher ist kaputt = Feststellen: ich komme mit etwas nicht klar; in diesem oder jenem Punkt macht mir meine Krankheit zu schaffen
2. ich bin erschrocken, traurig, wütend, ... darüber, dass der Wasserkocher kaputt ist = wie fühle ich mich? Wie geht es mir mit der Situation?
3. kann der Wasserkocher repariert werden oder muss ein neuer her? = gibt es eine Lösung für meine Situation/Problem? Wer kann mir dabei helfen?
Ich finde Schritt 3 besonders wichtig, denn vom Jammern allein über den kaputten Wasserkocher bekomme ich erstens keinen neuen oder reparierten Wasserkocher und zweitens auch keinen Tee, d.h. der Schritt des Aufblickens und nach vorne Schauen ist für mich so wichtig, weil er mir auch eine Motivationshilfe ist.
4. der Tee ist gekocht, ich sitze mit einer dampfenden Tasse auf dem Sofa und freue mich = dankbar sein für das, was ich (neu) habe
Derzeit muss ich gestehen, hat die Psyche ziemlich zu leiden. Die Wundheilung geht Schritt für Schritt vorwärts, umso deutlicher macht sich nun allmählich bemerkbar, wo die Langzeitfolgen bleiben. Die Hoffnung, die mich während der Zeit im KH und auch in den ersten Wochen zu Hause erfüllt hat, wird nun in die Realität übergeführt und es zeigt sich, welche Hoffnungen sich erfüllen und welche noch für lange Zeit oder vielleicht auch für immer ein Wunsch bleiben werden.
Während meiner Zeit im Mentorat hatte ich einen Kurs besucht, bei dem es darum ging, dem Wert des eigenen Lebens nachzuspüren. In dieser Zeit ging es mir zwar gesundheitlich nicht gerade prickelnd, aber ich hatte noch nicht die Erfahrung der akuten existenziellen Bedrohung gemacht. Diese Woche ist mir ein Briefumschlag in die Hände gekommen, in dem zwei Blätter waren und eine Hand voll Bohnen.
Der erste Text trägt den Titel "Der dicke alte Wollpullover" und stammt von Barbara Pachl-Eberhart aus dem Buch "Vier minus Drei". Die Autorin schildert dabei, wie sie bei einem Autounfall ihren Mann und ihre beiden Kinder verlor und danach zu einem neuen Leben fand. Als ich den Text wieder gelesen habe, sind mir die Tränen gekommen.
Der zweite Text bezog sich auf die Bohnen. Ich möchte ihn kurz schildern:
Man erzählt sich die Geschichte von einer weisen Frau, die sehr, sehr alt wurde und tief glücklich lebte. Sie war eine Lebensgenießerin par Excellence. Nie verließ sie das Haus, ohne eine Handvoll Bohnen einzustecken.
Sie tat dies nicht, um die Bohnen zu verkaufen. Nein, sie nahm sie mit, um so die schönen Momente des Lebens bewusster wahrnehmen zu können. Für jede Kleinigkeit, die sie tagsüber erlebte - so zum Beispiel einen fröhlichen Schwatz auf der Straße, ein köstliches Brot, einen Moment der Stille, das Lachen eines Menschen, eine Tasse Tee, eine Berührung des Herzens, einen schattigen Platz in der Mittagshitze, das Zwitschern eines Vogels - für alles, was die Sinne und das Herz erfreute, ließ sie eine Bohne aus der rechten in die linke Jackentasche wandern.
Manchmal waren es gleich zwei oder drei.
Abends saß sie zu Hause und zählte die Bohnen aus der linken Jackentasche.
Sie zelebrierte die Minuten. So führte sie sich vor Augen, wie viel Schönes ihr an diesem Tag widerfahren war und freute sich.
Und sogar an einem Abend, an dem sie nur eine Bohne zählte, war der Tag gelungen - es hatte sich gelohnt, ihn zu leben.
Für mich ist Dankbarkeit der Schlüssel für Lebensmut und Zuversicht.
Ich danke dir für deine lieben Grüße und guten Wünsche und sende dir herzliche Grüße
Trüffel